Zwischen Pinselstrich und Perspektivwechsel: Der Alltag in der Kunsttherapie

Vorbereitung der nächsten Stunde Kunsttherapie

Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte – besonders dann, wenn Worte fehlen. In der Kunsttherapie eröffnen Farben, Formen und kreative Prozesse neue Wege, Gefühle auszudrücken und die Heilung zu fördern. Kristina Kühne und Maria Rudat arbeiten als Kunsttherapeutinnen im St. Marien Hospital Eickel und zeigen Patienten, wie die Verbindung aus kreativem Gestalten und dem anschließenden therapeutischen Gespräch dabei helfen kann, persönliche Krisen zu bewältigen und negative Erfahrungen oder Traumata zu verarbeiten.

Zwei Wege in die Kunsttherapie

Die Leidenschaft für Kunst hat schon immer eine große Rolle in ihrem Leben gespielt – doch wie Kristina Kühne und Maria Rudat zur Kunsttherapie gefunden haben, ist so individuell wie die Menschen, mit denen sie heute arbeiten. 

Kristina Kühne ist seit siebeneinhalb Jahren Teil des Teams. Ihr Weg begann mit einem Studium der Kunstpädagogik an der Universität Leipzig. Nach dem Abschluss arbeitete sie freiberuflich; hauptsächlich mit Kindern aus sozialen Brennpunkten, Immigranten und Geflüchteten, bevor sie schließlich im St. Marien Hospital Eickel als Kunsttherapeutin startete.

Maria Rudat kam aus einer ganz anderen Richtung: Ursprünglich in der Sozialarbeit und Religionspädagogik zuhause, fand sie ihren Berufseinstieg in einer Wohngruppe für traumatisierte Kinder und Jugendliche. Dabei merkte sie schnell, dass viele Kinder eine andere Sprache brauchen als Worte. „Kinder, die unsagbare Dinge erlebt haben, können sie oft nicht benennen. Aber sie können sie ausdrücken, wenn man ihnen die richtigen Materialien in die Hand gibt. Im anschließenden Gespräch helfen wir dabei, das Entstandene einzuordnen und zu verstehen. Das gilt auch für Erwachsene“, sagt sie. Daher absolvierte sie eine Weiterbildung zur Kunsttherapeutin, die sie im April 2023 abschloss. Seit zwei Jahren arbeitet sie nun in der St. Elisabeth Gruppe.

Was beide verbindet: Der tiefe Wunsch, Menschen einen Zugang zu sich selbst zu eröffnen. Unabhängig davon, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelt. Denn, so Kristina Kühne: „Manche Gefühle brauchen keinen Satz, sondern ein Bild. Manchmal geht es gar nicht darum, was am Ende auf dem Bild zu sehen ist, sondern wie das Bild entstanden ist.“

Zwischen Pinselstrich und Perspektivwechsel – Der Alltag in der Kunsttherapie

„Das Buffet ist eröffnet“. Wenn diese Worte durch den Gruppenraum klingen, weiß man, dass die Therapiestunde jetzt beginnt. Gemeint ist damit kein Frühstücksbuffet, sondern ein Angebot an verschiedensten Materialien. Dazu gehören Bleistifte, Kreide, Wasserfarben, Aquarellbuntstifte und Kohle, aber auch Naturmaterialien wie Ton und Dinge wie Zeitschriften, Bücher und Kalender. Auf einem großen Tisch liegen diese ausgebreitet, bereit für die ganz persönliche Auseinandersetzung mit sich selbst. 

Kristina Kühne in der Reflektion mit einer Patientin

In jeder Kunsttherapiestunde gibt es eine Aufgabe, die es zu bearbeiten gilt. So kann Kristina Kühne ihre Patienten beispielsweise bitten, sich selbst als Tier zu malen. Dabei geht es nicht darum, das perfekte Bild zu malen, sondern um das, was zwischen den Linien passiert: Welche Farben gewählt werden, wie fest oder zart der Pinsel geführt wird, in welcher Stimmung gearbeitet wird – all das erzählt oft mehr als Worte.

Gearbeitet wird in einem großen Gruppenraum. „Einige Patienten legen direkt los, andere brauchen ein bisschen länger, um sich in die Aufgabe einzufinden und wieder andere haben Schwierigkeiten damit, sich überhaupt darauf einzulassen“, sagt Maria Rudat. 

Maria Rudat bespricht mit einer Patientin die erschaffenen Tonfiguren

Die Kunsttherapeutinnen beobachten dabei die Patienten, begleiten den kreativen Prozess und unterstützen durch gezielte Nachfragen und Hinweise. 

Nach etwa 30-40 Minuten Gestaltungszeit folgen dann die Bildreflektion und der gemeinsame Austausch innerhalb der Gruppe. Den Patienten ist es freigestellt, ob sie in der Gruppe über ihr eigenes Bild sprechen und Feedback erhalten wollen oder nicht. Oft dauert es auch ein bis zwei Therapiestunden, bis Patienten den Mut gefasst haben, sich den Rückmeldungen und dem Gruppengespräch zu stellen. „Viele haben Angst vor einer negativen Reaktion und erinnern sich zum Beispiel an ihre Schulzeit, in der sie einmal eine schlechte Note für ein selbstgemaltes Bild erhalten haben“, erklärt Kristina Kühne. Maria Rudat ergänzt: „Feedback wird aber in den allermeisten Fällen sehr achtsam mitgeteilt. Es ist beeindruckend, wie viel Mitgefühl und Empathie in so einer Gruppe spürbar wird, obwohl alle ihre eigenen Themen mitbringen.“ 

Wenn ein Thema in der Gruppe einen Patienten besonders aufwühlt, kann im Anschluss zusätzlich eine Einzelstunde folgen, um das Erlebte gezielt zu begleiten und emotional besser einordnen zu können.

Wenn Bilder sprechen

Manche Bilder begleiten die beiden Kunsttherapeutinnen noch lange. Kristina Kühne erinnert sich besonders an eine Patientin, die nach ihrem Aufenthalt nicht aufgehört hat zu malen. „Sie hat ein unglaubliches Talent entwickelt, das sie vorher gar nicht kannte“, erzählt sie. Die Kunst wurde zu einem festen Bestandteil ihres Alltags und schließlich sogar zur Basis für ihre erste eigene Ausstellung.

Doch es sind nicht nur die Erfolgsgeschichten, die bleiben. Viele Bilder, die entstehen, sind von tiefer Traurigkeit geprägt und genau deshalb so eindrücklich. Maria Rudat berichtet von einer Traumapatientin, die sich selbst mit schweren Ketten und Eisenkugeln malte. „Es war kein aktuelles Gefühl, sondern ihr inneres Lebensgefühl. So hat sie ihre ganze Kindheit erlebt.“ Solche Bilder sind oft schwer auszuhalten, doch beide Therapeutinnen haben für sich Wege gefunden, einen Ausgleich zum oft emotional fordernden Berufsalltag zu schaffen.

Gemeinsam statt allein – Arbeiten im Team

Für die St. Elisabeth Gruppe haben sich beide ganz bewusst entschieden und nennen klare Gründe dafür. Bei Kristina Kühne war die Jobsicherheit entscheidend: eine direkte Einstellung über zwei Jahre, ein verlässlicher Träger und ein starkes Team, in dem sie sich fachlich austauschen kann. Maria Rudat schätzt besonders die Vereinbarkeit von Familie und Beruf: In Teilzeit kann sie ihren Alltag mit den Kindern gut organisieren. Wichtig war ihr außerdem ein Umfeld, in dem die Kunsttherapie bereits etabliert ist und sie nicht ständig Überzeugungsarbeit leisten muss. Beide betonen das gute Miteinander im multiprofessionellen Team sowie den großen Gestaltungsspielraum in ihrer Arbeit. Weniger Bürokratie, mehr Zeit für Patienten – das macht für sie den Unterschied.

Mehr als nur malen – Warum Kunsttherapie heute wichtiger denn je ist

In den letzten Jahren hat sich etwas grundlegend verändert: Immer mehr junge Menschen suchen Unterstützung, etwa bei Panikattacken, sozialer Angst oder dem Gefühl, im eigenen Leben nicht richtig anzukommen. Die Corona-Pandemie hat bei vielen Spuren hinterlassen. Gleichzeitig wächst die Offenheit, sich Hilfe zu holen. Gerade deshalb ist Kunsttherapie heute wichtiger denn je: Sie bietet einen Zugang jenseits der Sprache – besonders für Menschen, denen es schwerfällt, ihre Erlebnisse und Gefühle in Worte zu fassen. Durch das anschließende therapeutische Gespräch kann das Erlebte reflektiert, vertieft und besser verstanden werden. 

„Kunst kann ausdrücken, was sprachlich kaum greifbar ist“, erklärt Maria Rudat. „Das stärkt nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern kann der erste Schritt sein, seine innere Stärke zu erkennen und den Mut zu haben, das eigene Bild vom Leben neu zu gestalten.“